Langsam lichtet sich die Baustelle: Der erste Kran ist abgebaut, der zweite wird in wenigen Tagen die Wilhelmstraße 1 verlassen. Lastwagen um Lastwagen transportieren einen Großteil der Teleskop-Sprieße und Schalungsträger ab, die die Betondecken während der Härtungsphase gestützt haben. Dort, wo später an der Wilhelmstraße das Museumsbistro betrieben wird, schwebt die weite Decke nun ohne sichtbaren Halt im Raum.
Gleichzeitig wurden neue Gerüste aufgestellt. Eines ragt im Innenhof des Gebäudes bis ans Dach. Seit der vergangenen Woche findet hier die Fassadenmontage statt, denn die Wände des offenen Atriums zählen offiziell zur Außenfläche. Teilweise wird sich das Glas über mehrere Geschosse erstrecken und viel Licht in den Innenhof führen. Rund 520 qm Glas werden hier verbaut. Vorsichtig fährt man dafür große Scheiben von bis zu vier Metern Länge und fast zweieinhalb Metern Breite in das Gebäude herein, dafür musste der bislang recht abschüssige Hintereingang baulich eingeebnet werden. Im Anschluss wird das Atrium – heute noch in nacktem Beton – mit nahezu weißem Granit verkleidet. Dieser Stein wird aus den Vereinigten Staaten angeliefert.
Teilweise scheint das Museum von einem Burggraben umgeben zu sein. Im Aushub entlang des Gebäudes werden Grundleitungen verlegt. Sogenannte Rigolen – unterirdische Pufferspeicher – können Regenwasser aufnehmen und versickern, damit die angrenzenden Kanäle bei Regenguss nicht überlastet werden. Was als Prinzip in der Tiefe funktioniert, funktioniert auch in der Höhe: So wird das Dach später begrünt, damit das Wasser nicht so schnell abfließt. Außerdem produzieren Pflanzen Sauerstoff, worüber sich Insekten und die Umwelt freuen. Doch das ist noch Zukunftsmusik, denn zuvor muss das Museumsdach bis Ende Juni komplett gedämmt und abgedichtet werden. Bei den zwei östlichen Dachflächen sind diese Arbeiten bereits abgeschlossen. Im Sandwichverfahren werden mehrere Lagen übereinandergebracht – eine Abdichtung auf Beton, dann eine Gefälledämmung und darüber zwei weitere Abdichtungsbahnen. Das leichte Gefälle auf dem Dach führt Niederschlag zu Entwässerungspunkten, wo er über die Regenfallrohre ins Kanalsystem geleitet wird. Nach Abschluss der Dachdeckerarbeiten werden Solarpanels montiert. Dies ist ein weiterer Beitrag dafür, das Gebäude so ökologisch wie möglich zu gestalten.
Die am Rohbau beteiligten Arbeiter ziehen sukzessive ab und geben die Räume für andere Fachleute frei. Fassadenbauer, Gerüstbauer, Trockenbauer, Dachdecker, Schlosser, Haustechniker – weil gerade so viele verschiedene Gewerke auf der Baustelle im Einsatz sind, wurden die Containertürme um weitere Tagesunterkünfte erweitert. Für jede Firma finden sich dort trockene, warme und corona-gerechte Räume für die Arbeitspausen. Die Anzahl der Beschäftigten hat die Zahl 50 überschritten, vorschriftsmäßig wurde daher nun auch ein Erste-Hilfe-Container aufgebaut.
Aktuell werden Entrauchungsschächte verschalt und betoniert. In diesen Tagen beginnt auch die Rohinstallation der Haustechnik für Elektro, Heizung, Sanitär und Lüftung. Trassen werden an Decken installiert, meterlange Leitungen für Strom und Abwasser über eigene Schächte durch die Etagen geführt. Vom allgemeinen Trubel auf der Baustelle völlig unbeeindruckt stehen bereits zwei Kunstwerke an ihrem Platz: Die zweiteilige Skulptur „Pair“ wurde zwischenzeitlich an ihren Bestimmungsort gebracht. Nur zu diesem Zeitpunkt war es möglich, die ebenso schwere wie hohe Bronzearbeit von Tony Cragg durch die noch unverglasten Öffnungen ins Gebäude zu hieven. Jetzt wartet „Pair“ fest montiert, sicher verpackt, mit Alarmanlage gesichert und durch eine mit Platten verkleidete geschlossene Gerüstkonstruktion auf das Ende der Bauarbeiten – und die Eröffnung im Herbst 2022.
Hinter der erfolgreichen Entwicklung der letzten Wochen und Monate stehen viele engagierte Menschen, die sich in Wiesbaden um die Ausführung der von Fumihiko Maki in Tokio entworfenen Pläne kümmern. In unseren Bautenstandsberichten vom März und April hatten wir bereits einige Personen vorgestellt. Heute kommen zwei weitere dazu:
Marcel Hündgen wuchs im Erholungsort Simmertal auf. Nach dem Abitur in Kirn studierte der 30-Jährige Bauingenieurwesen in Mainz, absolvierte seinen Bachelor in Statik und seinen Master im Fach Baubetrieb. Als Werkstudent knüpfte Hündgen erste Kontakte mit schneider + schumacher. Das gute Betriebsklima und die kreative Ausrichtung des Architekturunternehmens mit Büros in Deutschland, Österreich und China gefielen ihm auf Anhieb. Nach dem Ende des Studiums und vor seiner Festanstellung im Jahr 2017 nahm Hündgen allerdings erst einmal eine Auszeit und wanderte mehrere Monate im Himalaja-Gebirge – eine Erfahrung mit unvergesslichen landschaftlichen Eindrücken und wunderbaren Begegnungen. Der Pfälzer war dann beim komplexen Um- und Neubau des Jüdischen Museums in Frankfurt beteiligt – hier setzte schneider + schumacher den Entwurf von Staab Architekten um. Alt- und Neubau wurden zusammengeführt, eine anspruchsvolle Aufgabe mit zahlreichen Gewerken. Jetzt kümmert sich Marcel Hündgen mit Paula Klemp und seiner Chefin Jasmin Veigel um den ordnungsgemäßen Fortschritt der Arbeiten am Museum Reinhard Ernst. Dabei werden seine Kolleginnen von ihm jeden Tag bekocht! Neben gutem Essen ist der Bauleiter auch an Kunst interessiert, die Macke-Ausstellung im benachbarten Museum Wiesbaden hat er sich vor Kurzem angeschaut, sein Onkel Engelbert Becker kreiert abstrakte Gemälde. Auf die Wirkung der Werke aus der Sammlung Reinhard Ernst in den hohen Räumen des neuen Gebäudes ist Marcel Hündgen sehr gespannt.
Roman Relu stammt aus Suceava im Nordosten Rumäniens, einer Stadt an der Moldau mit rund 100.000 Einwohnern. Ihr Bild wird geprägt von einer Burg aus dem 14. Jahrhundert, die fast 200 Jahre Hauptwohnsitz der moldauischen Fürsten war. Weil er seine Heimat liebt, reist der 24-Jährige bei jeder sich bietenden Gelegenheit für Besuche zurück nach Rumänien – in das Land, das er vor sechs Jahren für die Arbeit auf westeuropäischen Baustellen verließ. Über drei Jahre war er in Großbritannien beschäftigt, weswegen er zwar noch nicht besonders gut Deutsch, dafür aber fließend Englisch spricht. Beim Museum Reinhard Ernst ist Relu „Mädchen für alles“, er packt überall an, wo Hilfe gebraucht wird. Der Wahl-Offenbacher plant sein Leben geradlinig: Vor zwei Jahren hat er in Suceava ein Haus erworben. Im nächsten Jahr folgt die Hochzeit mit seiner rumänischen Freundin, die in einem Frankfurter Gastronomiebetrieb tätig ist. Und in zwei Jahren möchte er zurück in seine Heimatstadt und dann dort – mit der frischgebackenen Ehefrau – ein eigenes Restaurant eröffnen. Sein Gottvertrauen bei diesen ambitionierten Plänen beweist ein unübersehbar großes tätowiertes Passionskreuz am Hals.