Vor einem Jahr befand sich an der Wilhelmstraße 1 noch eine große Baugrube. Jetzt wird auf das in der Zwischenzeit errichtete Gebäude teilweise schon der „Deckel aufgesetzt“: Vor wenigen Tagen konnten die Bauarbeiter die erste Dachfläche für das Obergeschoss fertigstellen! Um in dieser Höhe ausreichend viel Zementmischung in möglichst kurzer Zeit zu verarbeiten, kam eigens eine Betonpumpe mit einem spektakulär langen Ausleger und einer Reichweite von 63 Metern zum Einsatz. Sie führte 285 Kubikmeter Beton auf das Museumsdach, die dort für eine rund 50 cm starke Decke verteilt wurden. Je nach Spannweite weisen die Betondecken im Bau Stärken von 25 bis 50 cm auf; um die Traglast bei hoher Spannweite zu verringern, wurden auch hier wieder Cobiax-Kunststoffkugeln verarbeitet. Über dieses innovative Verfahren hatten wir bereits hier berichtet.
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Bis Mitte Mai soll das gesamte Bauwerk im Rohbau stehen. Weil die Statik bis hoch zu den Attiken – den oberen Abschlusswänden – ausgerichtet ist, können erst dann die Stützen in den darunterliegenden Geschossen entfernt werden. In den kleineren Räumen des Museums stehen noch zahllose Teleskopsäulen; für die deutlich höheren, über zwei Etagen reichenden Räume wurden zur Stabilisierung ganze Lasttürme aufgebaut. Passanten fällt entlang der Wilhelmstraße besonders die 150 Tonnen schwere Stützkonstruktion aus roten Stahlträgern ins Auge. Auch diese können erst aus dem Gebäudekörper gezogen werden, wenn die Arbeiten am Abschlusskranz des Daches beendet sind.
Während für die Rohbauarbeiten nun also die letzte Phase eingeläutet wird, werden parallel die ersten Anschlüsse vorgenommen. Die ESWE kümmert sich um die Verbindung mit Trinkwasser, Telekommunikation und Fernwärme, deswegen ist eine Spur der Wilhelmstraße für den Verkehr gesperrt. Aktuell werden Podeste, Treppen und Leitern gefertigt, die in wenigen Wochen im Untergeschoss montiert werden. Dachdecker haben mit der Abdichtung des Innenhofs begonnen und widmen sich ab Ende März dem Hauptdach. Die Arbeiten an der Fassade starten Ende April. Und am 7. Mai wird die Skulptur von Tony Cragg in den Museumsbau gehievt. (Nähere Infos zum Kunstprojekt hier)
Hinter der erfolgreichen Entwicklung der letzten Wochen und Monate stehen viele engagierte Menschen, die sich in Wiesbaden um die Ausführung der in Tokio entworfenen Pläne kümmern. Und genauso, wie die Kunst der Sammlung Reinhard Ernst aus den unterschiedlichsten Ländern kommt, so ist auch das Team auf der Baustelle eine multinationale Truppe. Exemplarisch möchten wir drei Personen kurz vorstellen:
Michael Müller hängt häufig am Telefon („Ich hätte gerne einen Siebener mit Holz, kranfähig getauscht“) und koordiniert in seinem Baucontainer den Einsatz der verschiedenen Gewerke. Das hochgewachsene Nordlicht – geboren in Jever – macht sich jeden Tag von Biebergemünd im Spessart auf den über 100 Kilometer weiten Weg nach Wiesbaden, um dort die Termine und die Qualität der Ausführung am Rohbau zu überwachen. Mit abstrakter Kunst kann er (noch) nichts anfangen – Müller braucht konkrete Vorgaben, für seinen Beruf sicher nicht das Schlechteste. Unkonkrete Gemälde oder Skulpturen hinterlassen ihn ratlos. Dafür fasziniert ihn die Architektur des Museums: Kaum eine Wand steht auf der anderen, die auskragenden Bauteile und besonderen Raumhöhen beeindrucken ihn. Entspannung vom stressigen Beruf auf dem Bau findet Müller auf seiner Streuobstwiese oder bei der Jagd.
Salman Kholmi kümmert sich mit einem montenigrenischen Kollegen um die Logistik auf der Baustelle. Der 29-jährige wurde in Afghanistan geboren; als er zwei Jahre alt war, flüchtete die Familie in den Iran. Dort leben noch heute seine Mutter und sein Bruder. Als entrechtetem Ausländer blieben ihm in der Islamischen Republik jedoch Schule und Ausbildung verwehrt, auch auf dem Arbeitsmarkt boten sich keine Chancen. Deshalb begab er sich 2007 auf den Weg nach Europa. In Italien ließ er sich zum Pizzabäcker schulen und knetete vier Jahre lang Teig. Schließlich führte ihn der Weg nach Deutschland, wo er nun schon einige Jahre auf Baustellen im Einsatz ist. Kholmis Wecker klingelt in Offenbach um 5 Uhr, damit er rechtzeitig bis 7 Uhr die Landeshauptstadt erreicht. Wenn er abends nach Hause kommt, hört die Arbeit aber noch nicht auf: Kholmi besucht von 19 Uhr bis 21 Uhr Deutschkurse, büffelt Vokabeln für seinen B1-Abschluss, außerdem lernt er gerade für den Führerschein. Bei seinem vierjährigen Kind wurde Autismus festgestellt – Salman Kholmi hofft, dass seiner Familie bald ein Kindergartenplatz zugewiesen wird. So könnte seine Frau von der kräftezehrenden Betreuung zuhause ein paar Ruhepausen erhalten.
Dzenan Mehmedovic erblickte in Novi Pazar das Licht der Welt. Diese Stadt liegt nur wenige Kilometer von der Grenze zum Kosovo entfernt. Um vor dem Krieg sicher zu sein, zog Mehmedovics Familie nach Berlin. Dort besuchte der Serbe als Teenager die Schule. Als es nach vier Jahren wieder zurück in die befriedete Heimat ging, absolvierte Dzenan Mehmedovic eine Lehre zum Kfz-Mechaniker. Danach entschloss er sich, nach Deutschland auszuwandern. Seine Heimat besucht er jedes Jahr, um Eltern und Geschwistern nahe zu sein – die verordnete Quarantäne nimmt er dafür aktuell gerne in Kauf. Die erste deutsche Baustelle, auf der Mehmedovic vor 15 Jahren sein handwerkliches Geschick unter Beweis stellen konnte, fand sich in den Dern’schen Höfen in Wiesbaden – der Umbau des alten Polizeipräsidiums. Während er damals als Einschaler tätig war, trägt der 35-jährige heute Verantwortung als Polier. Er prüft die Anwesenheit der vierzig bis fünfzig Arbeiter, die täglich am Rohbau des Museums arbeiten, und teilt sie in Gruppen ein. Dass so viele Menschen mit den unterschiedlichsten Biografien, Herkunftsländern und Religionen gut zusammenarbeiten, ist für den Moslem völlig selbstverständlich. „Mensch ist Mensch“ – das ist seine Philosophie. Immerhin verbrächte man mehr Zeit mit den Kollegen als mit der Familie – deshalb müsse man in dieser langen Zeit gut miteinander auskommen, stets respektvoll sein und Freude an der Zusammenarbeit haben. Bei der Errichtung des Museumsbaus hat sich Mehmedovic vor allem über die großen Stahl-Einbauteile gewundert – diese kannte er bisher nur von Hochhäusern und Brücken. Auch erfahrenere Bauarbeiter hätten so etwas in vierzig Jahren noch nicht gesehen. Spätestens zu diesem Zeitpunkt wurde ihm bewusst, dass er es beim Museum Reinhard Ernst mit einem ganz besonderen Gebäude zu tun hat.
P.S.
Wer sich für die genaue Beschreibung von Experten zu Schalung, Sichtbeton und Logistik interessiert: Die Baufirma Gemünden hat mit der Hochschule Mainz (Fachbereich Technik, Fachrichtung Bauingenieurwesen) kürzlich eine Baustellenbegehung gefilmt, in der die Besonderheiten des Museumsgebäudes für die Studierenden genauer beschrieben werden. Aber Achtung: Im Video wird viel Fachsprache verwendet, es fallen Begriffe wie Mittellochabspannung, Schalungsrüttler, Druckmessdosen, Bohrfluter, Sprieße oder 6/25er Stützen.